von Heiko Hansjosten
(in leicht veränderter Fassung erschienen in: Deutsche Clavichordsocietät (Hg.), Rundbrief der Deutschen Clavichordsocietät Nr. 75/2015)
Zugegeben: Der Titel ist durchaus provokant gewählt. Ein Clavichord wider das Clavichord-Revival? Warum wider? Nun: Das Instrument, das wir Ihnen hier vorstellen möchten, steht entgegen einer weit verbreitete Perzeption der Geschichte der historischen Tasteninstrumente im Allgemeinen und des Clavichords im Besonderen. Nach dieser Perzeption verschwand das Clavichord mit seinem höchst intimen Klang kurz nach Beginn des 19. Jahrhunderts - ähnlich wie das Cembalo schon etwas früher - aus dem Musikgeschehen. Es machte dem klangstärkeren Hammerklavier Platz. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entrückte es – so die weit verbreitete Sichtweise – das wieder aufkeimende Interesse an alter Musik und an historischen Tasteninstrumenten langsam wieder seinem Schattendasein: Es entstanden Nachbauten von Originalinstrumenten, wie etwa die Hass-Nachbauten eines Arnold Dolmetsch, und wenig später auch Neuinterpretationen des Clavichordgedankens in Form von mehr oder weniger industriell gefertigten Instrumenten, die die Errungenschaften des modernen Klavierbaus mit der Welt des Clavichords zu verbinden suchten. In den dazwischen liegenden Jahrzehnte scheint das Clavichord wie die Kielinstrumente in Vergessenheit geraten zu sein. Aus diesem Grund wird häufig von einem Revival ab dem Ende des 19. Jahrhunderts gesprochen. Als Metapher mag dieser Begriff durchaus tauglich sein, streng genommen impliziert der Begriff des Revivals allerdings zunächst einmal den „Tod“, das Aussterben einer Gattung, wie Howard Scott in seinem Artikel The Clavichord Revival, 1800 - 1960 (Early Music 32.4 (2004), Seite 595 bis 603) festellt. Entgegen der weit verbreiteten Perzeption war das Clavichord aber nie wirklich aus dem Musikleben verschwunden, oder wie es Howard Scott formuliert: "In Truth, the clavichord never quite died." (ebenda, Seite 595). Und dieser Perzeption trotz auch unser Instrument als Beleg dafür, dass das Clavichord in der Mitte des 19. Jahrhunderts offenbar nicht ausgestorben war.
Wir stellen Ihnen das Instrument aber noch aus einem anderen Grund vor: Es hat eine besondere persönliche Geschichte und ist kürzlich als Schenkung in unsere Sammlung gekommen. Daher sei auch an dieser Stelle unser herzlichster Dank an die Eheleute Dr. Siede ausgesprochen. Frau Siede hatte das Instrument vor Jahren ihrem Ehemann als Geburtstagsgeschenk übereignet. Nachdem die beiden es nun einige Jahre nicht benutzt haben, entschieden sie sich, das Instrument in unsere Sammlung zu geben. Wir freuen uns sehr, dass wir dieses besondere Clavichord spielbar erhalten dürfen, und möchten die Freude auf diesem Weg auch mit anderen interessierten Menschen teilen.
Das Instrument stellt auf den ersten Blick ein Unikum dar, das den fachkundigen Betrachter zunächst irritiert: Die Gestaltung des Möbels – schlichte biedermeierliche Formen und wunderbares kaukasisches Nussbaumfurnier mit Schellackpolitur – entspricht der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aufgrund der filigranen Proportionen des Korpus oder auch diverser Details wie dem kleinen aus Ebenholz eingelegten Schlüsselschild ist auf dem ersten Blick eine Entstehungszeit um 1810 denkbar. Der kleine Tonumfang von vier Oktaven (C/E bis c3 bei kurzer Bassoktav) wäre jedoch auch in dieser Zeit bereits als archaisch anzusehen. Das einchörige und bundfreie Besaitungskonzept mit vergleichsweise starkem Eisendraht hingegen ruft Erinnerungen an Instrumente der beiden mittleren Viertel des 20. Jahrhunderts wach - eine Datierung in diesem Zeitraum kann aber aufgrund anderer Details ausgeschlossen werden. Wie also ist dieses Instrument, das in den wesentlichen Teilen original erscheint und nicht - wie das ebenfalls hier vorgestellte Ganer-Clavichord - den Umbau eines älteren Instruments darstellt, einzuordnen?
Das Clavichord trägt nach jetzigem Kenntnisstand weder eine Erbauersignatur noch eine Datierung. Daher sind wir in der Frage der zeitlichen Herkunft auf eine Interpretation angewiesen. Die Interpretation, die wir hier anbieten möchten, datiert das Instrument etwa auf das Jahrzehnt 1830 bis 1840. Werfen wir dazu im Folgenden einen Blick auf einzelne Aspekte des Instruments.
Gestaltung des Möbels
Im Hinblick auf die Gestaltung des Möbels erscheint eine Datierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts plausibel. Der Korpus ist aus Nadelholz gebaut, mit kaukasischem Nussbaum furniert. Die Breite des Korpus beträgt 1200 mm, die Tiefe 418 mm, die Korpushöhe 171 mm. Die Innenseite des dreifach nach bester Clavichord- und Tafelklaviermanier geteilten Deckels trägt schlichtes, rot gebeiztes Nussbaumfurnier, wärend an den Innenwänden sowie im Bereich des hinterständigen Stimmstocks helles Ahornholz dominiert. Dass weder eine Deckelstütze noch ein Halteband für den Deckel vorhanden ist, lässt den Schluss zu, dass das Instrument nach der Intention des Erbauers entweder geschlossen oder mit geöffnetem rechten Vorderdeckel zu spielen ist, nicht aber komplett geöffnet. Der linke Vorderdeckel lässt sich mittels eines Messingshakens an der linken Seite in schräg nach hinten gestellter Position arretieren, um in Kombination mit der kleinen klappbaren Notenauflageleiste als Notenpult zu dienen. Die Tastaturklappe ist ganz in Clavichordtradition an der Klaviaturvorsatzleiste angeschlagen. Die Seitenteile des Korpus sind stumpf zwischen die Vorder- und Rückwand gesetzt. Der 35 mm starke Unterboden ist aus drei Schichten gefertigt: Eine mittlere Schicht Nadelholz (17 mm) wird oben und unten von Eichenholz (jeweils 9 mm) gerahmt. Vier schlanke und hohe, leicht konische Vierkantbeine mit einer Länge von etwa 634 mm tragen das Instrument. Diese sind ebenfalls mit Nussbaum furniert.
Klaviaturumfang
Besonders archaisch mutet der Klaviaturumfang von C/E bis c3, alternativ chromatisch E bis c3 an: Als ein Standardumfang für Tasteninstrumente war er vor allem im 17. und 18. Jahrhundert auch im Clavichordbau verbreitet, hielt sich aber insbesondere im Orgelbau in eher ländlich geprägten Regionen, beispielsweise in Böhmen, bis weit ins 19. Jahrhundert – vielen Dank an dieser Stelle an Andreas Hermert für den Hinweis. Der Klaviaturumfang kann gegebenenfalls als Hinweis gewertet werden, dass das Instrument als Übeinstrument für einen Organisten konzipiert wurde. Dies würde auch der Tradition entsprechen, nach der Clavichorde häufig diesem Zweck dienten.
Eine andere Analogie bieten die kleinen, oft tragbaren Hammerklavierchen des Klavierbaus der Zeit nach 1800 an. Diese, wie auch z. B. die Orphicae als Sonderform, besitzen oft vergleichsweise bescheidene Klaviaturumfänge. Demnach sind archaisch anmutende Klaviaturumfänge von um vier Oktaven auch nach 1800 noch häufiger zu finden.
Ob der Klaviaturumfang unseres Clavichords letztlich als C bis c3 bei kurzer Oktav oder als E bis c3 chromatisch zu interpretieren ist, bleibt offen. Die Stimmwirbel der Bassoktav sind zwar chromatisch (also E, F, F# usw.) mit Schlagbuchstaben bezeichnet, das schließt aber nicht aus, dass je nach Nutzung auch eine kurze Okatv gestimmt wurde.
Mechanische Anlage
Details der mechanischen Anlage weisen darauf hin, dass das Instrument bereits vollumfänglich im Gestus des Hammerklavierbaus steht und mit der Clavichordtradition des 18. Jahrhunderts bricht. Zu nennen sind hier einige Beispiele:
Die akustische Anlage mit einem die Klaviatur überdeckendem Resonanzboden und hinterständigen Stimmwirbeln entspricht den Konstruktionsprinzipien von kontinentaleuropäischen Tafelklavieren ab dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts.
Klaviatur und Tangentenmechanik sind wie bei Tafelklavieren mit Wiener Mechanik auf einem separaten Klaviaturrahmen angeordnet und werden nach Art eines Schlittens von zwei Abstandshölzern nach dem Einschieben auf die richtige Höhe gebracht. Zum Herausnehmen der Klaviatur lässt sich das Klaviaturvorsatzbrett nach vorn klappen.
Die Verwendung von Stimmwirbeln mit fast quadratischem Kopf ist im Klavierbau vor allem ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet. Auch die Beschläge, etwa am Deckel oder für die Arretierung des Klaviaturvorsatzbrettes, entsprechen denen bei Hammerklavieren der Zeit um 1840. Die Scharniere im Stil industriellen Klavierbands, die den Deckel mit der Rückwand verbinden, sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht original und eine Ergänzung aus neuerer Zeit.
Der doppelbestiftete, breite Steg inach Art eines Hammerklaviers ausgeführt, hier mit graphitiertem Plateau, ist clavichorduntypisch, ebenso der vorhandene, technisch eigentlich nicht erforderliche Stimmstocksteg, an den sich auf sehr engem Raum die Dämpfung aus einer roten Webfilzunterlage und einem weißen, eingeflochtenen Wollfilzband anschließt.
Auch die Ausarbeitung der Klaviatur steht dem prämodernen Klavierbau nahe. Die Tastenhebel aus Fichtenholz sind clavichorduntypisch massiv ausgelegt. Die Messingtangenten sitzen auf aus Lindenholz gefertigten Aufdopplungen der hinteren Tastenenden. Für eine Datierung um oder kurz vor 1840 sprechen noch weitere Details wie etwa die Gestaltung der Klaviatur mit Rinderknochenbelägen auf den Untertasten, Birnbaumobertasten mit dünnen Ebenholzauflagen sowie glatten Tastenfronten aus Ahorn. Die Länge der Klaviaturbeläge (Untertasten: 106 mm, Vorderplättchen 38 mm) und das Stichmaß (478 mm) sind jedoch deutlich kleiner als bei Hammerklavieren der fraglichen Zeit üblich.
Besaitung
Das bundfreie Clavichord ist einchörig bezogen. Ensprechend der hinterstimmigen Anlage befinden sich die Anhangstifte vor der rechten Seitenwand des Instruments, die letzten zehn Anhangstifte im Diskant sind in abgewinkelter Linie Richtung Steg versetzt. Von den Anhangstiften aus ankommend verlaufen die Saiten über eine mit rotem Tuch garnierte, den Stegdruck reduzierende bzw. ausgleichende Leiste. Die Besaitung ist durchgängig in Eisen mit einzelnen Zopfösen und für Clavichordverhältnisse sehr stark ausgeführt. Die Stimmtonhöhe beträgt derzeit etwa a1 = 440 Hz bei guter, vom Anschlag her dem Hammerklavier nahe stehendem Spielgefühl. Ob die Besaitung dem Originalkonzept entspricht, lässt sich mangels entsprechender Indikationen durch Drahtnummern nicht beurteilen.
Bezüglich der Einchörigkeit, die bei historischen Clavichorden selten anzutreffen ist, bietet sich ebenfalls der Vergleich mit Kleinformen von Hammerklavieren an: Beispielsweise sind die erhaltenen Orphicae und viele Nähtischklaviere ebenfalls einchörig besaitet.
Aufgrund dieser Befunde tendieren wir derzeit zu einer Datierung im Zeitraum 1830 bis 1840, geplant sind jedoch weitere Forschungen, insbesondere ein Vergleich mit anderen Clavichorden aus der Zeit nach 1820. Von besonderem Interesse könnte in diesem Zusammenhang auch das sich im Deutschen Museum München befindliche Pedalclavichord sein, das dem Friedberger Klavierbauer Glück zugeschrieben und um 1844 datiert wird. Auch bei diesem Instrument ist das Manualclavichord weitgehend einchörig besaitet, auch hier sind die Tangenten auf recht massiv ausgearbeiteten Erhöhungen am Tastenende eingeschraubt und die Seitenwände stumpf zwischen Vorder- und Rückwand gesetzt. Eine genauere Vergleichsuntersuchung ist daher wünschenswert, steht aber derzeit noch aus. Ebenso sollen noch weitere Beispiele "später" Clavichorde herangezogen werden. Lothar Bemmann listet in seiner Synopse von Clavichorden in Museen (abrufbar auf www.clavichord.info) mehrere Instrumente aus der Zeit nach 1820 auf, etwa Meerbach 1821 auf Schoss Friedenstein, Helbig 1832 im Thüringer Museum Eisenach, Halbig 1838 auf Schloss Glücksburg zu Römhild oder Jaras 1858 in der Musikinstrumentensammlung der Stadt Bochum. Für das Jahr 1857 - offensichtlich mit Bezug auf ein Zitat von Alfred James Hipkins aus dem Jahr 1889 (vgl. hierzu auch Scott 2004, a.a.O.) - erwähnt Joseph Wörsching in seiner Veröffentlichung Die historischen Saitenklaviere und der moderne Clavichord- und Cembalo-Bau (Rheingold-Verlag Mainz 1946, Seite 4) einen Clavichordneubau durch Hoffmann in Stuttgart für einen englischen Liebhaber; über den Verbleib des Instruments ist jedoch nichts Weiteres bekannt.
Bernard Brauchli konstatiert in seinem Buch The clavichord (Cambridge University Press 1998, Seite 233), dass insbesondere in Böhmen Clavichorde möglicherweise bis in die 1850er Jahre gebaut wurden. Als Beispiel führt er ein Instrument von Klemenz Kunz aus dem Jahr 1839 an. Ähnlich zitiert übrigens Howard Scott den späteren Pionier des Clavichords in den Vereinigten Staaten von Amerika, Morris Steinert (1831 - 1912), er habe seinen ersten Klavierunterricht in den 1830er Jahren auf einem Clavichord erhalten, denn zu dieser Zeit habe es kein Pianoforte in seinem bayrischen Geburtsort Scheinfeld gegeben (vgl. Scott 2004, a.a.O.). In Zusammenhang mit der ebenfalls späten Verbreitung des in unserem Instrument angelegten Klaviaturumfangs in Böhmen und im Hinblick auf die Parallelen zum (im weitesten Sinne benachbarten) Wiener Klavierbau erscheint es unabdingbar, erhaltene Instrumente aus diesem Umfeld in die Analyse einzubeziehen. Für weitere Hinweise auf Vergleichsinstrumente sind wir daher dankbar.
Vor dem Hintergrund unserer vorläufigen Datierung im Jahrzehnt 1830 bis 1840 liefert dieses kleine Clavichord also einen weiteren Beleg dafür, dass dieser Instrumententypus auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus in Gebrauch war, möglicherweise als Übeinstrument für einen Organisten. Angesichts der grundsätzlich eher niedrigen Überlieferungsquote historischer Clavichorde im Vergleich zu der doch relativ hohen Anzahl überlieferter Clavichorde aus dieser Zeit darf also von einer gewissen Präsenz dieses Instrumententypus im Musikleben eben jener Zeit ausgegangen werden. Angesichts der Nähe zwischen "späten" überlieferten Clavichorden und der Zeit der scheinbar neuen Begeisterung für "alte" Clavichorde sollte der Terminus „Clavichord-Revival“ durchaus überdacht werden.
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